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Das Glasperlenspiel

Schon in wesentlich jüngeren Jahren durfte ich Hermann Hesses Spätwerk „Das Glasperlenspiel“ kennenlernen. Manches davon verstand ich; vieles davon verstand ich nicht. Doch schon damals ahnte ich, dass mich dieses Werk dauerhaft beeindrucken, leiten und lenken sollte.

Heute, mehr als 25 Jahre, fast 30 Jahre später, kann ich erst ermessen, wie sehr Hermann Hesses Gedanken und Bilder aus seinem Glasperlenspiel mein Leben tatsächlich formten. Und gegenwärtig erfahre ich das Geschenk, erneut meinen Gedanken- und Forschungsweg der jungen Jahre wieder aufnehmen zu dürfen; dort anschließen zu dürfen, wo ich vor 25 Jahren aus geistiger Unreife meinen mir vorgezeichneten, ja, tatsächlich vorbestimmten Weg verließ.

Ein Sommerabend im Park

Am Abend des wohl heißesten Tages dieses Sommers 2022 trafen sich einige Freunde, darunter ich, im Berliner Volkspark Friedrichshain. Um uns wiederzusehen, um uns in entspannter Atmosphäre austauschen zu können. Und so, als nun die Hoffnung auf eine Kühle des nahenden Abends wieder erste Gedanken zuließ, berichteten wir einander aus unserem Leben, von unseren Plänen und Vorhaben und von unserer gegenwärtigen Arbeit.

Als nun die Reihe an mir war, erzählte auch ich, was mich gegenwärtig beschäftigt, begeistert und fesselt, was mich so sehr fasziniert, dass es mich suchen und forschen lässt.

Nachdem ich in etwa umrissen hatte, woran ich gerade so leidenschaftlich arbeitete, herrschte in der immer noch heißen und schwülen Nacht ein Moment der Stille. Bis dann einer, es war der Martin, das Schweigen brach und, eher in sich gekehrt als uns zugewandt, nachdenklich so etwas Ähnliches anmerkte wie: „Hm, dann denkst Du also den ganzen Tag so irgendwie nach …“.

In diesem Moment konnte und wollte ich dem auch gar nicht widersprechen, denn so hatte ich schließlich mein Tun geschildert, als eine gedankliche, geistige Tätigkeit an meiner selbst gewählten Lebensaufgabe. Dennoch: Spontan rumorte es in meinem Inneren.

„Dann denkst Du also den ganzen Tag so irgendwie nach …“. „Nein, das ist nicht meine Arbeit, „so irgendwie“ nachzudenken“, revoltierte es in mir. Ich folgte doch durchaus, wie ich glaubte, einer verlässlichen Struktur! Doch hatte ich mir diese Struktur bislang nie bewusst gemacht.

Was mache ich eigentlich, wenn ich „so irgendwie“ nachdenke?

„Hm, dann denkst Du also den ganzen Tag so irgendwie nach …“. Ja, was genau betreibe ich eigentlich, wenn ich forschend denke und nachdenke? Und wie gehe ich dabei vor?

So fragte ich mich also: Wie hätte ich der kleinen Gruppe im Park schöner, klarer, verständlicher von dem berichten können, was ich betreibe?

Doch unvermerkt erreichte diese Frage auch mich selbst, und das viel tiefer, grundlegender. Konnte ich mir denn selbst überhaupt erklären, konnte ich mir selbst Rechenschaft darüber ablegen, was genau ich betrieb, wenn ich philosophisch forschte? – Oder sollte es tatsächlich der Fall sein, dass ich nur „so irgendwie“, also bar jedes Zieles und jeder Orientierung, nach Lust und Laune, so irgendwie eben, selbst unverstanden, allein durch die Inspiration geküsst, meinen Interessen nachhing und nachging? – Das wäre doch für mich, bei dem die Selbsterkenntnis so groß auf der Fahne steht, eine geradezu bittere Einsicht gewesen.

Mir erging es eben in meiner geistigen Arbeit bisher genauso wie einem Maschinenbau-Ingenieur – ich war ja selbst mal einer – der zwar genial konstruieren kann, womöglich aber niemals erklären könnte, wie das geniale Konstruieren geht. Oder einem Musiker – das bin ich nun leider nicht – der zwar leidenschaftlich, bezaubernd und mitreißend musizieren kann, aber sein Musizieren wahrscheinlich auch nicht recht mit Worten beschreiben könnte.

Diesen bitteren Kloß des frisch erkannten Nichtwissens trug ich also im Magen mit nach Hause. Und seine Bitternis war zäh; sie ließ auch in den kommenden Tagen nicht nach. Also musste ich mich wohl volens nolens dieser bittersüßen Frage stellen: „Was tue ich eigentlich, wenn ich kreativ denke? Was tue ich eigentlich, wenn ich forsche?“

So begab ich mich auf meinen Weg.

Denken und Forschen

Wenn ich forschend denke, besitze ich eine klar gestellte Frage. Und auch wenn ich noch gar nicht genau weiß, was eine Frage, dieses Zauberwerk „Frage“ philosophisch überhaupt ist, versuche ich doch, die Umgebung meiner Fragestellung ausfindig zu machen. Das kennen wir ja: Wir entwerfen uns eine Mindmap, stellen unser Thema in den Mittelpunkt und sammeln alle Themen, weitere Fragen, Gedanken oder Gedankensplitter, Fachbereiche usw., die in unser Thema hineinspielen oder unsere Kernfrage tangieren.

Das ist meine Basis.

Ein Glasperlenspiel

Mir erscheint mein mir bevorstehendes Denk- oder Forschungsthema, die mich leitende Frage, sofern ich die Frage geprüft und wenigstens thematisch verstanden habe, wie ein Baum, wie ein kahler Baum, wie ein kahler Baum mit einer festen Wurzel. Weniger bildlich: Ich gebe mir eine klare Struktur vor; ich erschaffe mir ein strukturelles Gebilde.

Meine Aufgabe ist es nun, im Bild gesprochen, diesen Baum mit Früchten zu füllen. Weniger bildlich: Ich suche nach Strukturen, die sich harmonisch meiner Grundstruktur anfügen oder eingliedern lassen.

All unser Wissen, all unsere Gedanken, auch unser Nichtwissen, unsere Fragen, unsere Empfindungen, unsere Musik und unsere Erfahrungen, auch kleinere Gedankensplitter, – sie alle erscheinen mir oft wie herrliche bunte, vielfältige Glasperlen. Glasperlen unterschiedlicher Größe, unterschiedlicher Farben, mit unterschiedlichen eingegossenen Inhalten. All diese Glasperlen sind wunderbare, zauberhafte geistige Strukturen; Strukturen, nicht minder schön als Glasperlen. Strukturen, die ich erahnen, erfassen, verstehen und oft genug mehr oder minder erkennen kann.

Meine Aufgabe, meine Pflicht und meine Freude besteht nun darin, diese meine Glasperlen, meine Gedankensplitter, geistigen Struktursplitter, die ja meine innere, meine geistige Welt repräsentieren, zu einem wunderbar harmonischen, wohlgeordneten, strukturierten Gebilde zusammenzusetzen. Damit ein wunderschönes Mosaik, ein Glasperlen-Mosaik, ein herrliches harmonisches Gebilde entstehen kann. Ein Glasperlen-Mosaik, das ich in meinem Gemüt als wunderbar harmonische Musik, als Struktur und Ordnung wahrnehmen, empfinden und erleben darf; über das ich aber auch ganz rational, wissenschaftlich, durch Sprache Rede und Antwort stehen kann. Mir selbst gegenüber, aber auch anderen gegenüber, die mich dazu befragen und denen ich dann vielleicht meine Gedanken erklären darf, denen mir gewährt ist, Zeugnis abzulegen, denen ich mich im besonderen Fall vielleicht sogar offenbaren darf.

Vielleicht aber ist der Vergleich mit einem Mosaik viel zu statisch, auch viel zu Zweidimensional. Schöner, treffende ist möglicherweise das Bild eines Windspieles, eines Mobiles, das außer Glasperlen wie ein Traumfänger auch noch manch andere Heiligtümer beherbergt. Wie ja auch ein Baum, ein Traumbaum, ein dreidimensionales Wesen ist. Wie viele Dimensionen eine geistige Struktur besitzen mag, wage ich nicht zu benennen.

Das Glasperlenspiel in meiner geistigen Suche

Meine leitende Frage sei also der Stamm meines Gedankenbaumes, die Grundstruktur meines Mosaiks, das oberste, tragende Glied eines Windspiels, Traumfängers oder Mobiles. Nun kommt es darauf an, dieses Gerüst zu einem traumhaft schönen Gebilde erwachsen zu lassen, es mit Leben zu füllen, zum Leben zu erwecken.

Ich beginne mit meinem stärksten Gedanken. Mit diesem Gedanken, der mir nicht nur relevant für meine Frage erscheint, sondern den ich auch als besonders sicher erachte, nachdem ich ihn sorgsam auf innere Widersprüche und logische Fehler geprüft habe. Dieser Gedanke entspricht einer besonders ausdrucksstarken, sehr präsent wirkenden Glasperle, die ich an exponierter Stelle meines Gedankengebildes platziere.

Das Glasperlenspiel, dieses größte aller gedanklichen Abenteuer, ist damit eröffnet. Nun gilt es, Glasperlen zu finden, die in harmonischem Verhältnis zu meiner ersten Perle stehen. Gedanken, die mit meiner Fragestellung und meinem grundlegenden Forschungsgedanken konfliktfrei harmonieren und diese bereichern, zum Klingen bringen. Die das Glasperlenspiel, dieses wunderbare geistige Gebilde, fruchtbar wachsen und gedeihen lassen.

So wird sich, langsam und allmählich, Perle um Perle, mein Glasperlenspiel entwickeln. Gedanke um Gedanke, Struktur um Struktur wird sich harmonisch meinem neuen geistigen Gebilde angliedern und einfügen. Ja, es wird ein einzigartiges neues Gebilde entstehen; ein Gedankengebilde, das mir selbst noch völlig neu ist, das ich zuvor noch nie erblickt hatte, noch nie erblickt habe. Ein Gebilde, das wunderbar aufleuchtet, sobald sich einige Sonnenstrahlen in meinem Traumfänger verfangen. Und die harmonischen Farben der Perlen tanzen mit den Spektralfarben auf den weißen Wänden ringsumher.

Wichtig erscheint mir zu erwähnen: Ich verwende zum Aufbau meines Spieles nichts Weiteres als das sichere Vorhandene. Ich erfinde nichts Neues dazu. Das Neue ergibt sich, wenn es sich ergibt, aus der harmonischen Komposition des sicheren Vorhandenen. Wie ja auch in der Musik Rhythmen und Harmonien, auch die Orchestrierung, sicher vorhanden und bekannt sind. Und doch lässt eine neue Zusammensetzung, eine neue Komposition, stets Neues erwachsen.

Je weiter sich das Glasperlenspiel entwickelt, je sicherer und verlässlicher mir meine neue Gedankenwelt, meine Erkenntnis, meine Weltsichtweise erscheint, desto spannender wird das Ganze. Weil mein Glasperlenspiel in seinem langen Verlauf doch mehr und mehr zu meinem ganz eigenen Glasperlenspiel geworden ist. Zum Spiel meines Lebens.

Perle um Perle müssen sich nun die aufgebaute Ordnung, die aufgebaute Struktur und die aufgebaute Harmonie bewähren. Dabei droht stets die beängstigende Frage: Gäbe es möglicherweise eine Perle, einen Gedanken, der das ganze Gebilde zum Einsturz bringen könnte? Gäbe es möglicherweise eine Frage oder eine sichere Behauptung, ein Axiom, das mein ganzes Kunstwerk durch eine Widerlegung zum Einsturz bringen könnte? Wäre das möglich? Und wenn ja; was dann? Was würde aus mir werden? Wäre ich schon wieder, schon wieder bereit dazu, mir den Teppich unter meinen Füßen wegziehen zu lassen? Würde ich Kunst und Wissenschaft erneut über meine persönliche Forschungs- und Denkleidenschaft stellen können?

Die Prüfung des Glasperlenspiels

Das bisher gezeichnete Bild entspricht dem ersten Schritt geistiger Forschung ebenso wie dem Beginn freier Schriftstellerei. Glücklich und erfüllt sammeln wir Assoziationen und versuchen diese, in einen schönen, wohlstrukturierten Zusammenhang zu stellen.

Das Ringen um Erkenntnis, auf dessen Ergebnisse wir uns ja sicher verlassen wollen, muss jedoch über das glückliche freie Assoziieren hinausgehen. Nun müssen wir den Mut aufbringen, unser Glasperlenspiel, unser neues, schillerndes Gedankengebilde einer strengen Prüfung zu unterziehen. Wir müssen den Mut aufbringen, uns dieser bitteren Gefahr zu stellen, nach der Prüfung möglicherweise nur noch vor einem Häufchen Asche zu sitzen.

Was berechtigt es, diese Gefahr einzugehen? Was berechtigt uns dazu, uns einer solchen Gefahr auszusetzen? Uns möglicherweise einen solchen Kummer aufzubürden? – Die Antwort hierauf ist sehr einfach: Wir gehen, wie Sokrates, davon aus, dass es besser ist für uns, einsehen zu können, dass wir eventuell noch keine Erkenntnis gewonnen haben, anstelle einem süßen Trugbild, einem süßen, möglicherweise verhängnisvollen Irrtum aufzusitzen.

Diese strenge Erkenntnisprüfung, die sokratische Prüfung, gehört zum echten Glasperlenspiel unbedingt dazu. Sie ist die conditio sine qua non.

Umso größer, heller, leuchtender währt jedoch unser Glück, wenn wir ein Glasperlenspiel spielen und kreieren konnten, das jeder, auch der härtesten Prüfung standhalten konnte und jederzeit standhalten kann. Es ist das Glück, in unserem vagen und unsicheren Leben eine kleine sichere Insel gefunden zu haben. Und dieses Glück, die tiefe Freude über ein solches Erreichtes ist berechtigt, weil sie uns Menschen, unserem menschlichen Geist gerecht wird. Deshalb ist dieses Glück, diese Glückseligkeit, auch ein Glück ohne jegliche Reue.

Der Sinn des Glasperlenspiels

Zuletzt die Frage nach dem Sinn des Glasperlenspiels. Die Frage nach dem Warum und die Frage nach dem Wofür. Oder einfacher ausgedrückt: „Was soll das Ganze?“

Das schlichte Gemüt, das ausschließlich das Faktum Geld als Sinn seiner quantifizierten Welt anerkennen mag, wird über die wahre Antwort enttäuscht sein. Ihr oder ihm hilft wohl nur eine Antwort zum Trost, die derartige Fragerinnen und Frager beruhigen kann.

Für Menschen, deren Weltsicht außer Quantitäten auch Qualitäten besitzt, erscheint mir jedoch eine würdigere Antwort verpflichtend. Eine Antwort, die das Suchen, Finden, Prüfen und Erkennen im Glasperlenspiel, ganz abgesehen von einer begleitenden Glückseligkeit, tatsächlich in den größeren Zusammenhang eines universellen Sinns stellt.

Und so führt uns die Frage nach dem Sinn des Glasperlenspiels flugs zur Frage nach dem Sinn der Universums, des Kosmos, nach dem Sinn der Welt und nach dem Sinn menschlichen Lebens in ihr. Haben wir uns all diese Fragen hinreichend beantwortet, so wird die Frage nach dem Sinn des Glasperlenspiels obsolet. Denn, welches sinnvollere Werk könnte dem Menschen obliegen, als sich selbst, seine Welt und seine Verbindung zum Kosmos, sein Einssein mit der Welt und dem Kosmos zu erforschen, zu klären und hieraus seinen gerechten Umgang mit anderen Menschen, mit der Welt und mit dem Kosmos abzuleiten? Letztlich geht es darum, dieses, was die Religionen und das spirituelle Denken als Gott oder das Göttliche, das Gute, das Eins, das Seiende, die Quelle oder das durch welche Namen auch immer beschriebene Eine zu erkennen, zu manifestieren und lebend zu verwirklichen. Worum sonst sollte es auch gehen?

Zum Nutzen der Menschheit –
zum Nutzen der Welt.
Alles andere wäre ja nur lächerlich.

Insofern bin ich, was die Zukunft des Glasperlenspiels betrifft, sehr optimistisch. Auch wenn es der Welt aufgrund mangelnden Geistes stets an praktischer Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse fehlen wird, so ermöglicht das Glasperlenspiel uns doch eine Orientierung in unserem Tun und Handeln, in unserem Verhalten, Denken und künstlerischen Schaffen in dieser stets unvollkommenen Welt. Auch in Zeiten, in denen man zu glauben geneigt sein mag, die Erkenntnisse europäischer Vernunft und Aufklärung blieben einer fernen, fernen Zukunft vorbehalten.


 

7 Kommentare

  1. Martin Wittmann Martin Wittmann

    Meine Meinung: EINFACH TOLL!!!

    Ich hatte Michaels Zeilen schon vor einigen Tagen ausgedruckt und dann auf meinem riesigen Lesestapel neben dem Nachttisch abgelegt … und da lagen sie erst mal gut.
    Welche Überraschung, als ich dann heute Nacht – in einer schlaflosen Phase – danach gegriffen habe, eigentlich mit dem Ziel, wieder müde zu werden…
    Ich war total überrascht von der wunderbar leichten und bilderreichen Schreibweise über tiefgründige Gedankengänge. Ich fühlte mich von dem leichtfüßigen Spiel der Worte regelrecht in den Bann gezogen. Und trotz tiefer Nacht haben sich mir die wunderschönen Bilder und Wortkreationen wie dem vom „Gedankenbaum“ und „dem „Traumbaum“ sowie dem Bild vom Glasperlenspiel der Gedanken eingeprägt und angeregt.
    Ich habe tatsächlich noch nie so spielerisch philosphische Gedankengänge nachverfolgen können.

    Mein Fazit: Michael Gutmann ist ein wahrer Meister der Worte und der Vermittlung philosophischer Gedanken! 🙏
    Gerne mehr davon!

    LG Martin

  2. Ich hatte auch mehr vom Siddharta als vom Steppenwolf, als ich sie las. Meine Lieblingsgeschichte von Hesse ist aber kurz (und kaum jemand kennt sie): Knulp.
    Was das Glasperlenspiel angeht: ich bewundere den Mut der Navajokünstler, ein Sandbild zu machen. Das, ganz selbstverständlich, den Tag und den Wind nicht überstehen wird. Seine Bedeutung im Moment entfaltet.

    • Michael Gutmann Michael Gutmann Autor des Beitrages

      Danke, Petra! Du schreibst da etwas, was mich sehr anspricht und interessiert: Du sprichst vom Mut der Navajokünstler. Magst Du mir vielleicht noch etwas zu diesem Mut erklären? Denn dieses Wirken angesichts der Vergänglichkeit ergreift mich doch stets mit einem zwar tröstlich-süßen Schauer; aber eben doch mit einem Schauer, einem Horror.
      Liebe Grüße,
      Michael

      • lieber michael,

        ich erlaube mir einfach mal hier hinein zu springen. in die frage nach dem freiwilligen einlassen auf die vergänglichkeit der bilder. und dem (angeblichen) mut.
        so wird oder wurde es hier ja beschrieben.
        ich habe mehrere gedanken dazu, die ich hier lassen möchte.

        was mir zuerst dazu in den sinn kam: es bedeutet, dem, was man erschaffen hat, dem was (dann) da ist, zu erlauben, kurz da zu sein. und dies als „genug“ zu erlauben. sich/etwas kurz (oder lang, je nachdem) zu zeigen in der welt. im sinne von: ich habe damit (mit diesem zeigen des kreativen ausdrucks) meinen zweck und sinn erfüllt.

        es bedeutet außerdem, was mich ans tao erinnert – dem fluss des lebens erlauben zu fließen und darauf zu vertrauen. d.h. anfang, mitte, ende als kontinuierlichen prozess zu begreifen. nichts festhalten, also auch nichts loslassen müssen, sondern „mitgehen“/ „mitschwingen“.

        manchmal keine leichte übung, insbesondere dann, wenn es darum geht, etwas loszulassen, was wir gern „behalten“ hätten. aber warum eigentlich behalten? wofür? um was dann und damit zu tun?

        auf dem lebensweg sind wir alle immer wieder damit konfrontiert anzunehmen und loszulassen. und zuletzt müssen wir auch uns und unseren körper loslassen. alles andere ist vorübung sozusagen. leichter geschrieben als getan. dennoch irgendwie … vonnöten, notwendig, … es gehört dazu.

        manches erhält gerade durch die vergänglichkeit eine unfassbare schönheit. nicht?

        die buddhisten sagen, es sei gut, vom wollen abzulassen. ich bin noch nicht sicher, ob das wirklich wahr (für mich) ist. auch wenn ich es teilweise nachvollziehen kann. diese befreiung, nirgends „anhaften“ zu wollen, aber irgendwas daran ist es, das sich für mich dann wie „nur halb gelebt“ anfühlt.
        für mich ist es etwas anderes als das tao, auch wenn es ähnlichkeiten besitzt. mit dem tao kann ich viel mehr anfangen. für mein empfinden ist es lebendiger.

        lg
        poetin

  3. Kein Kommentar. Auch nicht zur Vergänglichkeit. Und nicht zur Wiederholung des ewig gleichen. Sondern nur…
    Ach ja, es wird Zeit… mal sehen, wie viele ich bis morgen schaffe, aber dann ist ja noch nicht Weihnachten vorbei… ich muß noch mehr einschlägige Beiträge bringen!): Schöne Weihnachten und einen rutschfreien Winter!

  4. Ich denke immer noch über Vergänglichkeit und Mut angesichts ihrer nach. Bin ja kein Navajo oder Tibeter oder wer sonst Sandbilder zu malen wagt, auch kein Pflastermaler, dem es wohl ähnlich geht.

  5. lieber michael,

    diesen text von dir habe ich gerade erst gelesen. das nachdenken, ja.
    ich kann deine erst stumme, stille empörung, die sich später auswuchs gut verstehen. da wurde etwas berührt durch einen anderen.
    die frage ist, ob es berührt hat und wurde, indem es getroffen hat oder eben nicht getroffen hat, also den punkt – um den es geht. das, was du hattest vermitteln wollen.

    ich kann dich in deinem streben nach wahrheit und klarheit sehr gut verstehen, da es auch mich mein leben lang schon begleitet.
    im vergleich zu dir fürchte ich aber den irrtum nicht. du nanntest es anders, ich weiß grad nicht mehr deinen begriff dafür.
    das denken und er-forschen empfinde ich als andauernde-dauernde-… tätigkeit. die hier und dort aufnimmt, weglegt, hinzulegt, neu zusammen legt, auseinander nimmt, auseinander reißt.

    vor ein paar tagen hörte ich, dass (viel-)denken auch ein coping-mechanism ist. das fand ich äußerst interessant. es hat damit zu tun, dass es irgendwann im leben mal sehr wichtig war, in den kopf zu gehen. du weißt sicher, wovon ich spreche. falls nicht, frage gern.

    jedenfalls … ist es, wenn du mich fragst, nicht nur eine antwort, die antreibt. mein ziel ist, im vergleich zu dir, sofern ich das richtig gelesen und verstanden habe, nicht das universum oder gott zu erklären. ich erfahre ihn ja.

    punkt.

    du schreibst sehr klar und nachvollziehbar. das finde ich schön und doch birgt auch die klareste sprache die möglichkeit nicht zu verstehen.

    nicht jeder findet gefallen, dinge zu erforschen. nicht jeder findet es „wert“ dies zu tun. für mich ist es wertvoller bestandteil meines lebens, aber nicht die einzige säule, auf dem es steht. (auch nicht bei dir, so habe ich es nicht verstanden, ich wollte nur für mich hier sprechen).
    auch so kann der eindruck deines freundes zustande gekommen sein. (hinsichtlich der wertung).

    hattest du es als kritik aufgefasst, was er gesagt hat?

    ich wünsche dir weiterhin frohes erforschen ein inspirierendes jahr.

    lg
    poetin

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