Ich kenne Menschen, die leben in Stichworten. Sie verbringen ihr ganzes Leben in Stichworten. Und ihre ganze Welt besteht aus … klar: Stichworten.
Diesen Menschen geht es nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Das Leben in Stichworten scheint sehr gefährlich zu sein. Gefährlich für den Verstand und gefährlich für die Seele. Besonders für die Seele.
Doch betrachten wir doch einmal näher, was diese Menschen denn eigentlich tun!
Wie geht das, in Stichworten zu leben?
Wenn diese Menschen eine Idee haben, dann notieren sie: Stichworte. Wenn sie etwas Interessantes lesen, notieren sie Stichworte. Wenn sie einem liebenswerten Menschen begegnen, notieren sie Stichworte. Auch ihre Trauer drücken sie in Stichworten aus. Um ein Gedicht zu erfassen, schreiben sie sich Stichworte auf. Und wenn sie ihr Leben, ihre Zukunft planen, schreiben sie sich Stichworte … irgendwo hin.
Ihr seht schon: Das ganze Leben dieser Menschen findet durch Stichworte statt. Es ist ein Leben in Stichworten.
Reduziertes Leben
Lebt es sich denn leichter oder besser, wenn man das Leben in Stichworten erfasst? – In jedem Fall ist es ein reduziertes Leben. Aber reduziert worauf? Auf Fakten, Fakten, Fakten. Und das eigentlich Menschliche, das Fakten Einordnende und Fakten Bewertende bleibt außen vor. Alle Zusammenhänge werden eliminiert. Damit geht auch alle Orientierung im Leben verloren. Denn es bleibt nur noch eine Orientierung an gleichwertigen Fakten; eine Orientierung, die keine mehr ist.
Schmerzhaftes Leben
Den Stichwort-Menschen geht es nicht gut. Sie leiden. Zum Teil leiden sie wie Hunde. Und eine Besserung ist nicht in Sicht.
Sie versuchen ihrem Leid zu entfliehen, indem sie noch mehr Stichworte aufschreiben. Aber da gerade dieses sie in die Misere geführt hat, wird genau das gleiche Mittel sie nicht von der Misere erlösen können.
Das Elend der Stichwort-Menschen
Das Elend der Stichwort-Menschen liegt nicht darin, dass sie sich Stichworte aufschreiben. Sondern darin, dass sie es versäumen, ihre Stichworte danach in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Und damit meine ich gar nichts Kompliziertes, sondern einfach nur den Segen, den unsere Sprache, ganz einfach Prosa, für uns bereit hält. Denn durch ganz einfache Prosa werden Ordnungen geschaffen: Kausalitäten (Ursache-Wirkung), Modalitäten (Z.B. Wenn-Dann etc), Begründungen, Ziele, Bewertungen, Relationen (Wer liebt wen …), usw.
Das Elend der Stichwort-Menschen liegt nicht darin, dass sie Stichworte aufschreiben. Sondern darin, dass sie ihre sich stets wiederholenden Stichworte als Ersatz für eine am Sinn und der Liebe orientierte, beseelte Sprache annehmen.
Dieses Leben ist ein Verzicht auf Sprache und damit ein Verzicht auf menschliches Leben. Was bleibt ist Vegetation und Depression.
Diesen Menschen geht es wirklich nicht gut.
…
Ah! Ein gutes Stichwort. Auf dieses könnte, sollte man vieles sagen, um es hier unterzubringen am besten in… nein, ich übertreibe schon wieder!
Sicher, Stichworte können nützlich sein. Ebenso wie Stenografie. Wenn der, der’s notierte, noch lesen kann, weiß, was er sagen wollte, sich merken wollte. Aber die Verkürzung darauf, untermalt mit einem komplett nichtssagenden, bunten Bildchen (am besten noch einem Kuchendiagramm ohne echten Kuchen), kann auch den Zuhörern schaden. Schlagworte, Stichworte, Kampfschreie – rudimentäre Sprache, bei der der Inhalt auf ein Signal verkürzt ist, das die, die es kennen, darauf eingschworen sind, wissen, wie zu reagieren ist.
Früher einmal war es zumindest noch ein Aphorismus, ein Wortwitz.
Doch nur noch ein Stichwort? Ein Pieks, statt einer Aussage?