Selbsterfahrung im Schreiben heißt:
Sich im Schreiben selbst erfahren!
Selbsterfahrung: Im Schreiben erfahre ich mich selbst! So, wie ich früher meine Rollschuhe oder Roller-Skates und später meine Inliners angezogen hatte um einfach aufs Geratewohl drauf los zu fahren, so mache ich es jetzt auch im Schreiben: Ich schreibe einfach drauf los!
Der Anfang aller Selbsterfahrung im Schreiben
Wie beim Rollschuhfahren: Ein paar anfängliche Schritte, ein paar Gedanken zur Probe; nur um zu schauen, ob alles passt. Und prompt ist da schon eine vage Idee, wo es hin gehen könnte. Vielleicht nach links oder vielleicht nach rechts? Oder geradeaus? – Wohin treibt es mich? Wohin zieht es mich? Wo verspricht das Abenteuer, am größten zu sein? Noch im Rätseln, merke ich schon, dass ich mich in Bewegung gesetzt habe.
Der erste belanglose Satz steht schon auf dem Papier: „Ich erinnere mich an …“ oder: „Ich denke gerade an …“ oder: „Ich habe mich schon immer gefragt …“. Genau an der Stelle, an der hier nun drei Pünktchen stehen, lese ich auf meinem Papier bereits einen Namen oder einen Begriff, den ich soeben geschrieben habe.
Selbsterfahrung im Dialog
Ich (!) habe diesen Namen oder diesen Begriff geschrieben. Ich (!) lese diesen Namen oder diesen Begriff. Schon ist das Schreiben zu einem „Schreiben und Lesen“ geworden und ich befinde mich mit mir im Dialog. Aha! Schon das erste kleine bisschen Selbsterfahrung, das erste kleine bisschen Selbsterkenntnis. Freilich, das ist noch nicht sehr viel. Aber es ist ja auch erst der Anfang und sehr viel mehr kann ja immer auch nur dann kommen, wenn der Anfang schon gemacht wurde!
Vielleicht ist der Anfang, den ich gerade gemacht habe, ja aber auch gar nicht sooo klein. Vielleicht habe ich mich ja gerade an einen Namen erinnert, an den ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr dachte. Oder vielleicht kam mir ein Begriff in den Sinn, über den ich sowieso und viel zu lange schon immer mal nachdenken wollte.
Selbsterfahrung wie durch Zauberhand
Meine Rollschuhe haben wie von alleine, wie von Zauberhand geführt, schon Kurs auf mein nächstes großes Abenteuer aufgenommen. Und ich, aktiv beschleunigend und passiv mich beobachtend und erlebend bin schon auf dem Weg der Selbsterfahrung. Denn nur nebenbei erfahre ich mit meinen Rollschuhen die Stadt oder die Landschaft; in der Hauptsache erfahre ich mich selbst, erlebe ich mich selbst!
Noch ist es ein reines Erfahren, noch kein Erkennen, noch keine Selbsterkenntnis. Bisher ist es nur ein kleines bisschen Selbsterfahrung, auf das ich mich, neugierig vor mich hinrollernd oder auch voranstürmend, einfach einlasse. Im Rollschuhfahren wie im Schreiben.
Selbsterfahrung beginnt mit Details
Schau genau hin! Spüre genau nach! Wie fühlt sich der Boden unter Deinen Füßen an? Welche Ansicht erwartet Dich hinter der nächsten Biegung?
Wie sah denn der Mensch, an dessen Namen Du Dich gerade erinnerst genau aus? Beschreibe ihn! Beschreibe ihn mit allen Deinen Sinnen! Wie sah er aus? Und wie roch er? Was für Kleidung trug er meistens und was war das größte Abenteuer, das Ihr gemeinsam erlebt habt?
Erinnerungen addieren sich
Und wie Du gerade mit Deinen Rollschuhen um die nächste Ecke biegst, merkst Du plötzlich: Genau hier war ich doch schon einmal! Hier kenne ich mich doch bestens aus! Na klar! Hier der Bäcker im roten Haus … und auf der Straßenseite gegenüber ist auf dem Gehweg grobes Kopfsteinpflaster! Plötzlich erinnerst Du Dich wieder an alles. Plötzlich ist Dir alles wieder vertraut. Irgendwie vertraut und doch auch neu zugleich.
Und alles, woran Du Dich erinnerst, bringt Deine Feder gerade zu Papier. Während dessen schaust Du ihr nur geduldig dabei zu. Und Du gibst ihr geduldig noch etwas mehr Zeit, dass sie alle Erinnerungen und Erfahrung in aller Ruhe aufschreiben kannst. Dabei erlebst du dich als Schreibende oder als Schreibenden, als Schriftstellerin oder als Schriftsteller. Du erlebst Dich selbst; du erfährst Dich selbst. Keine Hetze!
Erfahre immer mehr von Dir selbst!
Und Du fährst weiter und erkundest die Landschaft oder die Stadt! Fahr weiter, schreib weiter und erkunde, was in Dir steckt! All Deine Erinnerungen, all Deine Bilder, Deine Gedanken, Deine Gefühle … und schau, was sich noch alles einstellen mag. Lass Deine Erinnerungen einfach strömen!
Selbsterfahrung in Maßen
So wie Du beim Rollschuhfahren auch nicht erst mit letzter Kraft und Blasen an den Füßen Dein Zuhause erreichen willst, so mache es auch im Schreiben! Treibe Dich nicht! Deshalb: Wenn Du ein paar schöne Sätze aufgeschrieben hast, notiere Dir nur noch eine Frage oder ein paar Begriffe dazu, wie du weiterschreiben willst. Und dann mach eine Pause. Dann mach etwas ganz anderes. Und erst nach einer Weile, wenn Du wieder ganz frisch bist, wenn es Dich wieder danach drängt, Deine Rollschuhe anzuziehen, erst dann schreibe weiter! Denn Schreiben, Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis sind auch ein Genuss, den es in Maßen zu genießen gilt. Genauso wie Rollschuhfahren!
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